STOP DIE WELT, ICH MÖCHTE AUSSTEIGEN!

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NORTH SEA

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Hat das jemand gerufen? Wer weiss, vielleicht ist das, was momentan passiert, im Grunde genommen mehr Chance als Desaster?

März 2020. Es ist eine totale verrückte Zeit gerade. Die einen reden von Krise, die nächsten von Disruption, andere haben Weltuntergangsfantasien. Ich erlebe diese Gegenwart gerade, als wenn die Welt den Atem anhält. Endlich mal. In meinem Dorf, in dem es eh schon nur zur Rushhour hektisch und ansonsten geruhsam zugeht, herrscht eine totale Stille. Als ob jeden Tag Sonntag ist. Niemand stresst, die Leute halten sich zurück, gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach, man grüsst, wenn man überhaupt jemanden auf der Strasse sieht, eher verhalten, verständnisvoll aus der Distanz. Etwas, was mir als gebürtigem Nordlicht sowieso eher entgegenkommt, ich habe mich zwar an das dreimalige Geküsse beim Begrüssen in 23 Jahren in-der-Schweiz-leben längst gewöhnt, aber es entspricht normalerweise nicht unbedingt meinem Naturell, grad jedem noch so flüchtigen Bekannten derart nahe zu kommen. 

Angesichts der sich stündlich überholenden Infos aus offiziellen und nicht so offiziellen Quellen kommt mir eine Begebenheit aus meiner Kindheit in den Sinn. Ich war schon mit meiner Mutter alleine – mein Bruder und mein Vater sind sehr früh gestorben –, ich war vielleicht 9 oder 10 Jahre alt, da hat mich meine Mutter in die Studiobühne des Theaters Lübeck in eine Vorstellung mitgenommen. Nicht mein erstes kulturelles Erlebnis, wir waren davor mal in einer konzertierten Aufführung von «Peter und der Wolf» in unserem Kolosseum, das kleiner ist als es klingt, gewesen, aber mein erster Besuch im Theater. Okay, «nur» Studiobühne. Wir sahen «Stop die Welt – ich möchte aussteigen» (Ich glaube, dass es so hiess, aber ich muss heute googeln, um mich an den korrekten Namen und den Autor des Stücks zu erinnern: es ist im OriginalStop The World – I Want To Get Off, geschrieben von Leslie Bricusse und Anthony George Newley 1961). Ich erinnere mich an den einzelnen Schauspieler auf der Bühne, der in einem bunten Kostüm die Hauptfigur darstellte (auch das muss ich heute googeln: Littlechap). Er hat uns auf eine Reise durch sein Leben mitgenommen und immer wenn es haarig wurde, «Stop die Welt – ich möchte aussteigen!» gerufen. Ich glaubte, er hat um Zeit zum Nachdenken gebeten. Ich war das einzige Kind im Zuschauerraum, zumindest denke ich das, weil ich mich total besonders gefühlt hatte, zum ersten Mal wie eine «Grosse». Und dieser Schauspieler, der in meiner Erinnerung so ähnlich aussah wie Art Garfunkel (und vielleicht Peter irgendwas hiess?) hat mich von der ersten bis zur letzten Sekunde fasziniert. Er hat in dieser Ein-Mann-Version den Wahnsinn des Lebens beeindruckend intensiv dargestellt, die vielen Dinge, die auf einen einprasseln und dabei gab es damals noch nicht mal die digitale Welt! Der Gedanke, die Welt anhalten zu können, wenn es zu bunt wird, damit man mal wieder Luft holen kann, der erschien mir schon damals verlockend. 

Und genau so ist es jetzt. Die meisten Termine sind abgesagt, vor allem, was Pressereisen, Messen und Präsentationen angeht, einige Dinge finden in reduziertem Masse statt. Alles was vorher noch so unfassbar wichtig war, ist auf einmal gar nicht mehr so dringend, kann man verschieben, die Vorstellung des neuen Modelles XY, die Konferenz zu Thema Z, irgendwie geht das auch. Die Wirtschaft reagiert hysterisch, und ich verstehe, dass es an vielen Fronten ein finanzielles Debakel ist. Für jeden von uns übrigens. Wir werden lange brauchen, um uns davon zu erholen, aber wir werden hoffentlich auch daraus gelernt haben. Nicht nur, dass man jetzt ganz wunderbar Dinge zuhause erledigen kann, die man schon ewig aufschiebt. Dass es vielleicht eine gute Idee ist, Jugendliche darin zu bestärken, dass sie wieder lernen wollen, wie man bauert. Die lokale und regionalen Produkte unterstützen. Denn wenn der örtliche Supermarkt mal drei Tage nicht beliefert wird, geht uns das Essen (und das Klopapier – ehrlich? Was um alles in der Welt hamstern die Leute bloss!) aus. Man hat auch Zeit, einfach mal so in den Wald zu gehen ohne schlechtes Gewissen, weil man entweder sowieso zu Homeoffice verdonnert ist oder weniger Aufträge hat. Man kann sich mehr um sich kümmern, Me-Time zelebrieren. Wenn das Schicksal Dir Zitronen gibt, mach Limonade draus, das hat bestimmt die schlaue Dolly Parton gesagt. Eine fatalistische Sicht. Und wenn die Welt wieder anfängt, sich zu drehen, steigt man halt wieder ein. Oder nicht?

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